“Wir werden im ersten Jahr der neuen Bundesregierung eine umfassende Nationale Sicherheitsstrategie vorlegen” – so unsere Vorstellungen zu Beginn der jetzigen Wahlperiode. Zum damaligen Zeitpunkt schien die Welt zwar nicht einfach, aber gewohnt. Die Bundewehr war mit Tausenden von Soldat:innen in mehr als einem Dutzend Auslandseinsätze vertreten, der politische Westen war gerade in Afghanistan gescheitert. Wir hatten spätestens zu diesem Zeitpunkt festgestellt, dass die Bemühungen Deutschlands oder der EU mitunter von beeindruckender Kurzsichtigkeit geprägt waren. Mit einer abgestimmten und werteorientierten Politik wollten wir unser Handeln gemeinsam mit unseren Partnern effektiver und wirkungsvoller gestalten. Tatsächlich gab es aber kaum abgestimmtes Vorgehen der verschiedenen Ressorts.
Mit dem völkerrechtswidrigen Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine hat sich die Welt gewandelt. Waren vorher Klimawandel, Armut und Migration die großen sicherheitspolitischen Herausforderungen, steht nun die Geopolitik im Mittelpunkt: Wie weit können wir den Kampf der Ukraine unterstützen? Wie verletzlich ist unser Wirtschafts- und Gesellschaftsentwurf? Zählt nun auch für Deutschland militärisches Durchsetzungsvermögen zu den legitimen Mitteln unserer Politik? Mehr denn je ist es unsere Aufgabe, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Zurecht hat unser Bundeskanzler unmittelbar nach dem 24. Februar von einer Zeitenwende gesprochen. Meiner Überzeugung nach ist er damit den faktischen Geschehnissen gefolgt. Die Zeitenwende ist kein politischer Begriff, sondern die treffende Benennung der Situation. Die Zeit, in der wir Europäer mit einer gewissen Naivität im vollen Umfang von der Friedensdividende profitierten, ist vorbei. Zu unterschiedlichen Anlässen haben unser Bundeskanzler, unsere Parteivorsitzenden, die Jusos und andere ihre jeweiligen Vorstellungen der Folgen dieser Zeitenwende beschrieben.
Was fehlt, ist eine Gesamtstrategie, die den Umgang mit anderen Staaten und anderen Gesellschaftsentwürfen beschreibt. Die auf wirtschaftliche Macht und Abhängigkeiten ebenso eingeht wie auf Armut und Klimawandel. Die Deutschland sicher in der europäischen und transatlantischen Partnerschaft hält – bei allen unterschiedlichen nationalen Strategien.
Die bisherige Interpretation der Zeitenwende beschränkt sich mehr auf die Frage, wie wir unsere Streitkräfte ausstatten. Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Ausstattung unserer Bundeswehr ist von enormer Bedeutung, die existierenden Fähigkeitslücken müssen dringend ausgeglichen werden. Kern sozialdemokratischer Friedenspolitik muss aber die ganzheitliche Betrachtung der Verantwortung einer modernen, freiheitlichen und sozialen Gesellschaft wie der unseren sein. Es ist die Aufgabe unserer Partei, nun für eine moderne, einsatzfähige Bundeswehr zu sorgen. Das tun wir gerade. Es ist aber noch viel mehr die Verantwortung unserer Partei, Krieg nie als akzeptiertes Mittel deutscher Politik zu betrachten.
Um es ganz klar auch aus meiner Sicht als Verteidigungs- und Menschenrechtspolitiker zu sagen: Verteidigung ist wichtig. Sie darf aber nur dann primäre Bedeutung erlangen, wenn alle anderen Mittel der Politik gescheitert sind. Ich würde mir deshalb wünschen, dass wir mehr über Friedenspolitik sprechen, über wirtschaftliche Kooperation, kulturellen Austausch und Entwicklungszusammenarbeit.
Ich hoffe, dass die SPD in diesem Sinne die Schwerpunkte einer zukünftigen nationalen Sicherheitsstrategie bestimmt. Dafür müssen aber auch wir in Hamburg uns deutlich mehr mit der Welt außerhalb unserer Stadtgrenzen beschäftigen, auch wenn das manchmal unbequem ist.
Der Autor
Falko Droßmann war von 2016 bis 2021 Bezirksamtsleiter in Hamburg-Mitte. Seit 2021 vertritt er den Wahlkreis Hamburg-Mitte im Deutschen Bundestag.