Es gibt Verhaltensweisen von uns Menschen, die sind seit Jahrtausenden unverändert. Der Mensch ist ein soziales Wesen, schon in grauer Vorzeit sammelten wir uns in Familienverbänden, später dann in Stämmen, Dorfgemeinschaften, Städten und schließlich Nationalstaaten. Und bei all der Stärke, die wir aus diesen Zusammenschlüssen zogen, gab es doch auch immer schon Streitigkeiten, Fragen und Entscheidungen, die das reibungslose Zusammenspiel Gemeinschaft behindern konnten.
Glücklicherweise verfügt der Mensch neben seinem Sinn für soziale Nähe auch ein außerordentlich gutes Gehirn und so viel uns recht schnell eine Lösung für das dargestellte Problem ein: die Versammlung. Die Menschheit entwickelte über die Zeit hinweg viele verschiedene Formen der Versammlung, abhängig von Kultur, Religion oder politischem System. Eine Grundform der Versammlung konnte man an einem Mittwochabend Ende August im Hamburger Stadtteil Lokstedt beobachten.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Niels Annen hatte zur Diskussion über die Frage „Wie kann Integration gelingen?“ geladen. Die Frage beschäftigt die Menschen in Deutschland besonders seit dem Herbst 2015 als viele, viele Flüchtlinge aus Kriegsgebieten auf der Suche nach Schutz und Sicherheit ins Land kamen. Die Frage ist komplex und noch sind wir auf der Suche nach der richtigen Antwort. Deshalb werden unter anderem überall in Deutschland Versammlungen organisiert – mal als Podiumsdiskussion, mal als Gespräch – bei denen wir als Gemeinschaft versuchen, einer Antwort näherzukommen.
Eine Versammlung braucht Menschen mit besonderem Wissen oder besonderer Verantwortung, welche die Diskussion der Versammelten leiten, inhaltliche Fragen beantworten und Lösungen umsetzen können. Deshalb hatte Niels Annen unter anderem Aydan Özoğuz eingeladen. Özoğuz ist Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Wenn sich also jemand mit der Frage „Wie kann Integration gelingen?“ intensiv beschäftigt hat, dann Aydan Özoğuz. Aus Lokstedt kamen zudem Pastor Bernd Müller-Teichert von der Evangelischen Kirchengemeinde Lokstedt, Pastor Uwe Klüter von der Freien Evangelischen Gemeinde Lokstedt, sowie Hansjürgen Rhein vom Lokstedter Bündnis für Familien.
“Wir brauchen ein ordentliches Einwanderungsgesetz”
So versammelten sich an einem der seltenen lauen Sommerabende dieses Jahres zahlreiche Bürgerinnen und Bürger aus Lokstedt zusammen mit Annen und seinen vier Gästen im Garten des Bürgerhauses Lokstedt. Spontan waren Stühle aus dem inneren des Hauses nach draußen gestellt worden, hätten die vielen Besucher doch niemals alle in den kleinen Raum des Bürgerhauses gepasst. Nach der Begrüßung sagte Annen: „Integration ist eine Aufgabe, die kann eine Stadt, die kann ein Staat insgesamt nicht alleine durch seinen Beamtenapparat, durch politische Entscheidungen bewältigen.“ Es brauche die Beteiligung, das Engagement der Bevölkerung.
Zunächst erzählte Özoğuz von ihrer Arbeit als Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, von der Schwierigkeit als „Beauftragte“ ständig von Ministerium zu Ministerium zu rennen, ohne die Kompetenz selbstständig neue Reformen und Gesetze umzusetzen. „Das muss in Zukunft auf viel ernsthaftere Füße gestellt werden“, forderte Özoğuz. Beispielsweise mit einem eigenen Ministerium für Migration, Flüchtlinge und Integration.
Außerdem bräuchte es endlich ein ordentliches Einwanderungsgesetz. „Alle Menschen, die nach Deutschland einwandern wollen, müssen transparent wissen, welche Anforderungen an sie gestellt werden, vor allem wenn sie auf den Arbeitsmarkt wollen“, sagte Özoğuz. Transparenz und Effizienz sind zwei wichtige Begriffe für die Staatsministerin. Menschen, die Asyl beantragen, sollten nicht Jahre auf eine Antwort warten müssen und Unternehmer, die Einwanderer einstellen, sollten die Sicherheit haben, dass ihre neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht im nächsten Monat wieder das Land verlassen müssen. Das schaffe man nur mit mehr Transparenz, Effizienz und eben einem Einwanderungsgesetz.
“Die kriegen was, was wir nicht kriegen”
Integration hat viel mit Menschen zu tun, die sich für eine gelungene Integration einsetzen, die enorme Mengen an Zeit und Energie in die Sache stecken, aber auch mit Menschen in einer Gesellschaft, die sich gegen Integration stellen. Zentraler Reizpunkt bei den Gegnern von Integration wäre häufig das Thema Geld, erzählte Özoğuz. Es gehe um Neid und die Sorge, dass „die etwas kriegen, was wir nicht kriegen“, dass „die bevorzugt werden“. „Aber so ist es einfach nicht“, sagte Özoğuz. „Man muss doch nur mal in eine Unterkunft gehen und sich ganz ehrlich fragen: Will ich hier wohnen? Über Monate? Gerade in der ersten Zeit in den Erstaufnahmen? Das ist doch nicht vergleichbar mit dem Leben, was Gott sei Dank, noch die allermeisten haben.“ Und dann berichtete Özoğuz von ihrem letzten Besuch in einer Flüchtlingsunterkunft, bei dem sie zwei junge Geflüchtete getroffen habe, die ihr begeistert von ihren neuen Einzimmerwohnungen erzählten, von der neu-gewonnen Ruhe, der Privatsphäre.
„Das sind so Dinge, die man manchmal gerne vergisst“, sagte Özoğuz. „Ich plädiere dafür, es sich bitte nicht zu einfach zu machen. Wenn etwas nicht richtig läuft, dann muss man es benennen und dann sind wir als Politiker auch gefragt, rennen dahin und gucken was wir ändern müssen oder ob wir das noch mal anders gestalten müssen. Aber bei all dieser Debatte sind wir doch alle viel glücklicher, wenn wir fair bleiben, wenn wir respektvoll bleiben, wenn wir miteinander im Gespräch bleiben.“
Geschichten aus der alten Heimat
Von diesem respektvollen und fairen Verhalten mit Geflüchteten in Lokstedt berichteten dann auch Pastor Bernd Müller-Teichert und Pastor Uwe Klüter. Letzterer erinnerte die Anwesenden zudem an den vielleicht wichtigsten Faktor für erfolgreiche Integration: die deutsche Sprache: „Was mir aufgefallen ist, dass die Flüchtlinge ganz häufig sagen: ,Deutsch lernen in einem Kurs ist nur das eine, aber richtig Deutsch sprechen, lernt man nur in der Kommunikation mit einem Gegenüber.‘ Man muss die Sprache also anwenden. Das klappt umso besser, umso mehr Mitbürgerinnen und Mitbürger sich engagieren und sagen, ich bin da, ich rede mit den Leuten.“
Reden können Bürgerinnen und Bürger mit Geflüchteten und Einwanderern beispielsweise bei einer der Aktionen im Bürgerhaus Lokstedt. Hansjürgen Rhein berichtete von internationalen Abenden, an denen die neu Zugezogenen, den „Alteingesessenen“ Lokstedtern von ihrem Heimatland und von ihrer Kultur erzählen: „Sie können uns damit ein Stückchen ihrer Heimat vermitteln. Vokabeln, wie ,Massen‘, ,Angst‘ und ,Abschiebung‘ werden in diesen Momenten von den persönlichen, glücklichen Erinnerungen der Menschen überlagert.“
Die letzte halbe Stunde des gemeinsamen Abends widmeten sich Annen, Özoğuz, Müller-Teichert, Klüter und Rhein Fragen aus dem Publikum, bezüglich des Einwanderungsgesetztes, zu Maßstäben für eine erfolgreiche Integration und zu einer deutschen Leitkultur. Schließlich wurde der Sommerabend dann aber doch von der kühlen norddeutschen Nacht abgelöst, die Versammlung fand ein Ende und die Menschen kehrten nach Hause zurück oder zogen ins Innere des Bürgerhauses um, um dort in kleinen, persönlichen Runden weiter die wichtige Frage zu diskutieren: „Wie kann Integration gelingen?“