Warum weg aus Afghanistan?

Teil zwei der persönlichen Fluchtgeschichte – Haroon Niazi erzählt von seiner Flucht aus Afghanistan mit seiner Familie.

Wie fühlt es sich an, in Afghanistan als normaler Mensch zu leben? Normale Menschen haben kein Problem, außer der Gefahr der Attentäter, die sie Tag und Nacht bedroht, außer den Raketen, die aus Pakistan auf uns geschossen werden, außer der schlechten Politik, die Arme noch ärmer und Reiche reicher macht, außer dass weder Erfahrene noch junge Leute wegen der verbreiteten Korruption Arbeitsperspektiven haben, außer, dass sie nichts zum Essen haben und außer, dass jeden Tag hunderte von ihnen sterben. Alles klingt ganz normal oder? Das ist für uns zur Routine geworden.

Die Suche nach Arbeit

Wie findet man Arbeit? Ersteinmal benötigt man eine dicke Vitamin-B-Verbindung um irgendwo eingestellt zu werden. Wenn man dann einen Job hat, hat man nur Chancen zu bleiben, wenn man selbst korrupt wird, denn Kollegen und Vorgesetzten erwarten einen „Teil vom Kuchen“. Wenn man das Spiel nicht mitspielt, hat man als Neuer schnell ein Problem. Entweder man fliegt raus und sitzt wieder zu Hause oder man wird in eine sehr gefährliche Provinz transferiert, damit man den anderen nicht im Weg steht.

Die wenigen Wohlhabenden, die ein besseres Leben haben, wohnen vergleichsweise gut. Allerdings leben sie mit der Angst, dass irgendwann entweder sie oder ihre Kinder entführt oder getötet werden. Das kommt immer wieder vor.

Wer Gerechtigkeit will lebt gefährlich

Und dann gibt es jene wie meinen Vater und viele andere, die etwas ändern wollen und für Gerechtigkeit, Frieden, Menschenrechte und gegen Korruption kämpfen. Sie leben am gefährlichsten. Denn sie haben mehr Gegner und Feinde als alle anderen. Die Regierung selbst, die von der Korruption profitierende organisierte Kriminalität und die Taliban. Die Todesarten variieren. Der eine wird von den Taliban geköpft, der andere Opfer eines Auftragsmordes, dessen Spuren schnell verwischt sind. Hinterher wagt es niemand darüber zu reden oder nach dem Täter zu fragen. Alle bleiben vor Angst still. Wie nach dem Mord an meinem Vater. Viele von denjenigen, die auf diese Weise Verwandte verloren haben, machen sich dann auf dem Weg auf der Suche nach einem Leben in Frieden – zumindest für ihre Kinder.

Verständnis und Akzeptanz für Flüchtlinge sind wichtig, denn niemand auf dieser Welt verlässt sein Heimatland einfach nur aus Langeweile und flüchtet in einen anderen Kulturkreis. Wer hier Hass gegen Flüchtlinge verbreitet, kann sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, aus welchen Notlagen heraus die Menschen fliehen.

Wege nach Europa

In Afghanistan kursieren unterschiedliche Geschichten über den Weg nach Europa, aber niemand kann wirklich beschreiben, was Flucht bedeutet. Das wissen nur diejenigen, die das erlebt haben. Legal gelangt man nicht nach Europa, weil man von Botschaften kein Visum bekommt. Es bleibt nur ein Weg sich zu retten, und zwar die Flucht über Land.

Drei Versuche

Wie war es bei uns? Obwohl wir alle von der Deutschen Botschaft benötigten Dokumente vorlegten, wurde unser Visumsantrag abgelehnt. Die zweite Option war das türkische Visum – aber auch die Türken  stellen keine Visa mehr für privat Reisende aus. Die dritte Option: Das iranisches Visum. Das bekamen wir. Den Fluchtweg vereinbarten wir schon vorher mit einem Schleuser. Seine Route sei die beste und sicherste, versprach er und nahm doppelt so viel Geld als die anderen Schleuser.

Alles an den Schleuser

Und wenn man sich nur mal eine Minute nimmt und darüber nachdenkt, wie schmerzlich es ist, das ganze Leben gearbeitet zu haben und dann die Ersparnisse einer Lebensleistung komplett in die Hände eines Schleusers gibt, um seine Familie zu retten – kann man sich vorstellen, dass man nicht leichtfertig aufbricht. Denn man erreicht Europa mit leeren Händen. Hätten wir ein Visum bekommen und legal reisen können, wäre es uns möglich gewesen uns mit dem Geld hier eine Existenz aufzubauen. Stattdessen maschierten wir wie eine fragwürdigen Hirten ausgelieferte Herde von einem Kontinent zu nächsten, wurden von Schleusern und von der Polizei so schlecht behandelt, dass uns unterwegs der Glaube an die Menschlichkeit fast abhanden kam und erreichten Europa – immerhin lebend – als arme Leute.

Stunden, die sich wie Monate anfühlen

Sieben Grenzen (Iran, Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich) mussten wir überqueren und fast zwei Monaten reisen, um Deutschland zu erreichen – häufig zu Fuß. Bei Kälte, im Regen, durch Flüsse, mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer, über Berge, durch Wälder, bei dunkler Nacht, über Bahntrassen, mit leerem Magen, mit verletzten Füßen… In jedem Land von der Polizei schlecht behandelt schleppten wir uns durch diese zwei Monate bis wir in Deutschland angekommen waren. Das waren Tage, in denen sich Stunden wie Monate anfühlten. Wenn du jeden Abend bis morgens 7 Uhr durch die Dunkelheit über Berge, auf Schienen, durch Dreck und Wasser läufst, wenn du selbst hungrig und durstig bist und immer weiter gehst, aber nicht trinkst, damit es für die ganze Familie reicht, wenn dein Rucksack so schwer ist, dass du deine Schultern zergehen fühlst, aber du weißt, dass vor dir keine zweistündige Wanderung liegt oder dass du nach einer Stunde Pause machst, sondern bis zum Morgen ohne Pause läufst, wenn deine Geschwister nicht mehr laufen können und du sie an die Hand nimmst und versuchst, nicht hinter der Karavane zurück zu bleiben, wenn du mitten auf dem Land in Regen gerätst, vor Kälte wackelst und mit Plastiktüten versuchst, deine Geschwister vor dem Regen zu schützen. Oder du versuchst mit anderen ein Feuer anzuzünden aber schaffst es nicht. Wenn du nach einem anstrengendem Anstieg im Gebirge endlich oben bist und dich setzt mit Schmerzen in jedem Gelenk und plötzlich warnt der Schleuser vor der Polizei und du stehst wieder auf, um mit der Familie schnell abzuhauen, dann bekommst du eine Ahnung wie lang sich die Minuten in den zwei Monaten der Flucht angefühlt haben.

Man vergisst ganz und gar was für ein Mensch man früher war. Man braucht nicht nur Stunden sondern Monate Zeit, bis man sich an alles erinnert und seine Persönlichkeit wieder findet.

Ein Neuanfang

Nach unserer Ankunft in Deutschland wollten wir nicht wie viele andere traumatisiert in Selbstmitleid versinken. Wir wussten, was wir vor uns haben: Die schwere Mission, sich ein neues Leben in Deutschland aufzubauen. Und es war uns klar, dass wir wach bleiben und kämpfen müssen. Und ich glaube wir sind gut darin. Übung haben wir ja.

Meine Familie hat es vermieden, in Deutschland in einer kleinen afghanischen Community zu wohnen und sich hier ein kleines Afghanistan zu bauen. Wir fuhren mit dem Zug direkt nach Bremen im Wissen, dass es in Bremen nur wenige Afghanen gibt und bewarben uns dort um Asyl. Wir sind dann aber von den Behörden nach Hamburg transferiert worden; ironischerweise die Stadt mit der größten afghanischen Gemeinde Deutschlands.

In Hamburg haben wir vom ersten Tag angefangen Deutsch zu lernen und auch unsere eigene Stärke zur Hilfe anderer Menschen verwendet. So halfen meine Mutter und ich z.B. in der Erstaufnahme den anderen Ehrenamtlichen in der Kleiderkammer bei der Verteilung. Mama bot Fitness-Trainings für Frauen an, damit die Frauen während der frustrierenden Wartezeit ein wenig Bewegung haben und fit bleiben konnten. Ich helfe den Leuten mit meinen Deutschkenntnissen bei wichtigen Arztbesuchen und Behördengängen und bin in meiner Freizeit Teil der Community, die Google Translate für Dari-Deutsch und Paschtu-Deutsch mit eigenen Übersetzungen weiterentwickelt und verbessert, denn mir ist es klar wie sehr Google-Translate Flüchtlingen weltweit hilft.
Meine Mutter qualifizierte sich in fünf Monaten für das Deutschsprachniveau B2. Meine kleinen Geschwister haben innerhalb von acht Monaten eine Gymnasialempfehlung bekommen und gehen beide auf eins der besten Gymnasien Hamburgs. Meine ältere Schwester und ich durften am Anfang keine Deutschkurse besuchen, aber vor einigen Monaten haben sowohl sie als auch ich die Chance erhalten. Sie besucht gerade einen B1-Kurs und ich einen C1-Kurs. Im Rahmen dieses Kurses mache ich gerade ein Praktikum bei der SPD.

Wir haben die Vision, uns ein neues Leben in Deutschland aufzubauen und arbeiten hart daran, damit wir möglichst bald wieder auf eigenen Beinen stehen können.

Über unseren Weg von Afghanistan nach Deutschland hat auch die FAZ berichtet.

Der Autor

M. Haroon Niazi hat in Afghanistan Jura studiert und für eine Menschenrechtsorganisation gearbeitet. Er lebt seit Anfang 2015 mit seiner Mutter und Geschwistern in Deutschland und seit zwei Monaten in Marienthal/Wandsbek. Gerade besucht er einen Deutschkurs, um sich für die Uni qualifizieren zu können und macht ein Praktikum bei der SPD Hamburg. Er interessiert sich für Politik und will gerne an der Uni Hamburg Politikwissenschaft studieren. In seiner Freizeit dolmetscht er für Neuankömmlinge und hilft bei Behördenproblemen. Der erste Teil seiner Fluchtgeschichte ist hier unter dem Titel Frieden – In Afghanistan nur ein Wort erschienen.

Ein Gedanke zu „Warum weg aus Afghanistan?“

  1. Lieber Haroon!
    Ich bin sehr berührt, deinen Artikel auf dieser Plattform gefunden und gelesen zu haben.
    Und ich freue mich so sehr, dass ihr innerhalb der relativ kurzen Zeit mit eurer Kraft und eurem großem Mut ein so gutes und haltgebendes Netz hier habt aufbauen können.
    Das ist eine große Leistung und ihr habt meinen Respekt.
    Seid herzlich gegrüßt,
    von Monica Beer-Möller

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